Nach fast einem Dreivierteljahr Eroberungskrieg in der Ukraine begreifen wir immer mehr, dass dieser Krieg ein radikaler Katalysator ist, der eine neue Perspektive von uns auf die Welt wie von der Welt auf uns einfordert. Alles was in den vergangenen Jahren feste ökonomische, politische und kulturelle Regeln und rechtliche Formen zu haben schien, gerät ins Wanken und verdreht sich sogar ins jeweilige Gegenteil. Lange stillgestellte Konflikte, verdrängte Gefahrenzonen und unheilvolle Triebkräfte scheinen entfesselt, die Büchse der Pandora ist weltweit geöffnet. Es wird deshalb Zeit, die deutsche Blickzentrierung und den europäischen Blick auf den Angriffskrieg in der Ukraine und seine befürchteten sozialen und ökonomischen Folgen für unsere Gesellschaften zu öffnen und die globalen Sichtweisen und Perspektiven anderer Weltregionen einzuholen. Denn es geht nicht nur darum, mehr oder weniger Panzer zu liefern, damit der Westen mit der Nato nicht Kriegspartei wird wegen der Gefahr eines Weltkrieges, sondern bereits um ein viel größeres Welt-Geschehen geradezu revolutionären Ausmaßes, das dieser Krieg wiederspiegelt. Diese Perspektive soll weder die akuten und befürchteten Bedrohungen des Ukraine-Krieges herunterspielen, noch das Recht auf Selbstverteidigung auch mit Waffen in Frage stellen. Es ist aber dieser Krieg mit seiner Gewalt und Brutalität, mit den schlimmsten Folgen für die Welternährung und der Forcierung der Klimakrise, der erneut offenbart, wie dünn die „Decke“ des zivilisierten menschlichen Zusammenlebens und wie verletzlich diese Welt ist, wenn zivilisierende Spielregeln gebrochen werden. Er konfrontiert uns zudem mit einem in vielen Regionen der Welt geführten Kampf zwischen politischen und ökonomischen Systemen um die Vorherrschaft. Das besondere Kennzeichen dieser Kämpfe ist es, dass es Machtgruppen gelingt, die Gesellschaften zu spalten und eine Hälfte in einer teils frenetischen, emotionalisierten Massenloyalität zu binden. Nicht nur in Russland spielen dabei missbrauchte Kulturmuster religiöser, ethnischer oder nationalistischer Herkunft die klassischen Hauptrollen. Über all dem steht ein scheinbar vorläufiger Endpunkt der Globalisierung, bei dem sowohl für Verlierer wie für Gewinner die kapitalistischen Grundmuster des Wachstums und Ressourcenverbrauchs angesichts des bedrohlichen Klimawandels in Frage stehen. Der Krieg konfrontiert uns aber auch mit der revolutionär verändernden Kraft der Digitalisierung. Dass ein digitales Satellitensystem im Besitz eines einzigen Menschen den Erfolg der ukrainischen Verteidigung garantiert, wie umgekehrt die weltweite Präsenz von Facebook, Twitter und Co zerstörerische Kräfte freisetzen kann, sind Symbole für noch zu gestaltenden Produktivkräfte, die die Produktion von Waren und Dienstleistungen bis in Konsum und Kultur global gerade radikal verändern. Die wenigen Beispiele sollen aufzeigen, wie sehr dieser Ukrainekrieg in eine Weltsituation eingebunden ist, die eine Bewusstseins- und Mentalitätswende nötig macht. Diese sicherlich unvollständige Liste von Fragen sind Anhaltspunkte. Diese weisen aber auf Veränderungen hin, die unabweisbar Engagement erfordern. Es gilt tiefer und grundsätzlich miteinander aufzuarbeiten, was liegen geblieben oder zu wenig beachtet war auf einer langen Strecke: · Wie ist der Blick außerhalb Europas auf die ausgerufene Zeitenwende, wird der Zeiteinschnitt auch so wahrgenommen? Und wie wird die Rolle Deutschland in diesem Konflikt gesehen? · Wie wird der Rückbau der Globalisierung gesehen, begonnen teils aus Protektionismus, teils aus Sicherheitsaspekten? Welche Folgen hat das für Arbeitsmärkte und Handel? · Der Ukrainekrieg macht deutlich, wie dramatisch Klimawandel, Energieverbrauch, Ernährungssituation und Wohlstand voneinander abhängen. Entstehen zwangsweise neue Prioritäten zum Nachteil der nachhaltigen Ziele? Haben die gleichrangig gedachten Nachhaltigkeitsziele der UN noch eine Perspektive und welche Erwartungen werden an Europa gestellt? · Internationale Sicherheit und Zusammenarbeit beruhen auf Verträgen mit nicht immer gleichen Partnern. Muss internationales Recht neu ausbuchstabiert werden? Wie steht es mit der Wahrnehmung doppelter Standards? · Das Aufbrechen der Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus/ Postkolonialismus in vielen Ländern stellt die Frage nach Nähe und Distanz, nach eigenen Interessen in dieser Weltlage. Welche Bedeutung hat diese Frage für die Haltungen der Länder in Bezug auf Europa? · Aus westlicher Sicht geht es um die Systemkonkurrenz von Demokratien mit autokratischen Systemen. Ist das auch die Perspektive von Ländern aus anderen Weltregionen? · Die großen europäischen Erzählungen haben ihre Wurzeln in religiösen Überlieferungen, der Aufklärung, den Menschenrechten und den bürgerlichen Freiheitsrechten. Wie blicken die Länder in anderen Weltregionen aus ihrem kulturellen Selbstverständnis heute darauf? · Wie wird die Zukunft einer sich verändernden Welt gesehen, welche Prognosen werden gewagt für eine neue Weltordnung? Welche Erwartungen richten sich an Europa? Eingeladen sind: |
- Donatian Fambove Pouphi, Gründer der African Student Association Darmstadt, für eine Perspektive aus Kamerun
- Nader Djafari, Sozialwissenschaftler und Unternehmer für eine Perspektive aus dem Iran
- Professor Dr. Marcelo Parreira do Amaral, Institut für Internationale und vergleichende Erziehungswissenschaften Universität Münster, für eine Perspektive aus Brasilien
- Dr. Peter Oliver Loew, Direktor des Poleninstitut Darmstadt, für die besondere polnische Perspektive
- N.Eine Perspektive aus Südkorea, angefragt
Moderation: Dr. Franz Grubauer, Dr. Annette Laakmann, Bildungsministerium Hessen und Vorsitzende der Dekanatssynode Darmstadt