Vermutlich haben sich die meisten dieser Frage schon einmal, zumindest in einer stillen Stunde, gestellt. Es gibt unendlich viele gute Vorsätze, nicht zuletzt zur Verbesserung der eigenen Lebensführung und für die Umwelt. Und dann gewinnen wieder der Alltag, Routinen und Gewohnheiten die Oberhand. Wie frei sind wir eigentlich, uns zu ändern, fragen wir zwischen Schulterzucken und etwas Scham oder manchmal auch mit Trotz, dass alles so bleiben soll, wie es ist.
Aber die Frage hat ein Störpotential, weil wir, zumindest in Europa, in einer Welt leben, in der individuelle, politische und gesellschaftliche Spielräume für Freiheit noch nie so groß waren und damit Entscheidungsmöglichkeiten eröffnen für Veränderungen, auch wenn der Umfang die Spielräume für freie Entfaltung gesellschaftlich immer noch ungleich und auch ungerecht verteilt sind. Die Störung besteht in dem inzwischen auch fühlbaren Wissen vom Klimawandel, vom ungesunden Konsumverhalten, der Endlichkeit von Umweltressourcen, etc. In dieser Spannung von Einsichten und Gewohnheiten befinden wir uns.
Und dann gibt es auf einmal eine weltweite Bewegung, ausgelöst von der mutigen Greta Thunberg. Fridays For Future hat bis in den Verbrauch von Wattestäbchen und Billigfleisch weit in das individuelle Bewusstsein gewirkt. Und war bereits von Flugscham für Billigurlaube und Inlandsflüge im vergangenen Jahr die Rede, da schafft es ein Virus ganze Flugzeugflotten am Boden zu halten und verändert gravierend Lebensalltag, Arbeitswelt und Konsum.
Es ist beeindruckend, welche Bereitschaft entstanden ist, Haltungen zu ändern über das Maß der notwendig erforderlichen Verhaltensregeln hinaus. Aus dieser existentiellen Lage entstehen Fragen, was Freiheit in einer solchen Situation für sich aber auch für die Mitmenschen bedeutet. Mit wieviel weniger kommt man aus, was vermisst man mit einem Mal am meisten, zum Beispiel den persönlichen und körperlichen Kontakt, allzumal zwischen Angehörigen und Freunden, und welche Bedeutung hat Gesundheit?
Freilich entstehen auch Ängste und Blockaden als Gegenpole freier Entscheidungsmöglichkeiten. Was unfrei macht an Kränkungen und Verletzungen, an traumatische Erfahrungen und existentiell bedrohlichen Lebenssituationen, ist für viele eine biografische Erfahrung. Gepaart mit materiellen Einschränkungen blockieren diese Erfahrungen in Krisen oft Änderungsbereitschaft. Und wenn Gespenster der Vergangenheit Ängste in Wut umschlagen lässt, geht es nicht mehr um gemeinsame Wege aus der Krise.
So gesehen, reicht es natürlich nicht, jemanden zuzurufen: sei doch frei, du hast doch so viele Möglichkeiten! Aber wir wissen auch, was Wege sein können, um aus den eigenen Grenzen herausführen. Gerade in diesen Zeiten wird dies deutlich: Zuallerst geht es um Vertrauen. Überall da, wo sich Menschen vertrauen, können sie Unsicherheit und neue Situationen besser durchstehen. Alles, was Vertrauen stärkt in der Familie, in der Nachbarschaft, unter Kolleginnen und Kollegen, in Gesellschaft und Politik schafft Freiräume für mutige Schritte von Veränderungen. Kein Vertrauen zu haben, beengt und macht krank; und ohne Vertrauen gibt es keinen Zusammenhalt in der Gesellschaft und übrigens auch nicht in der Wirtschaft. Dass dieses Vertrauenskapital immer wieder entwertet wird, um in der Sprache der Ökonomie zu bleiben, sollte aber kein Hindernisgrund sein, immer wieder neues Vertrauen aufzubauen. Letztlich geht das übrigens weit über rein ökonomische Beziehungen hinaus, wenn wir vom Schenken von Vertrauen sprechen. Und diejenigen, mit den starken Vertrauenskräften müssen ihre Freiheit dafür nutzen, auf die Enttäuschten zuzugehen und sie vielleicht ein Stück mitzutragen.
Wie frei wir eigentlich sind, uns zu ändern, kann deshalb immer nur eine Frage an jeden einzelnen und an alle anderen sein. Dass dabei außergewöhnliche und unerwartete Dinge möglich sind, daran werden wir gerade im Herbst 2020 nach dreißig Jahren friedlicher Revolution und Wiedervereinigung der beiden Deutschlands erinnert. Ohne das große Vertrauen in einer Welt voller Misstrauen schaffen es die Bürgerbewegungen in der DDR einen Freiheitswillen zur Veränderung zu erzeugen, der letztlich Mauern einreißt.
Und woher nehmen die mutigen Frauen in Belarus nach der manipulierten Wahl die Freiheit, sich so entschieden gegen ein diktatorisches Regime zu stellen und ein ganzes Regime ändern zu wollen, denn aus Vertrauen und Solidarität?
Wir leben in einer sich verändernden Welt, die enorm gespannt und polarisiert ist zwischen solchen mutigen und hellen Beispielen, die beeindruckend zeigen, dass ein oft unerwartetes Freiheitspotential zu konstruktiven Veränderungen vorhanden ist, allerdings ebenso wie zu dunklen und destruktiven Kräften, die Vertrauen zerstören.
Die Frage, wie frei wir eigentlich sind für Veränderungen, für das Erproben neuer Lösungen in Umwelt und Gesellschaft, für den Ruck, sich selbst immer wieder zu überwinden, stellt sich in diesen Zeiten also besonders. Damit Selbstvertrauen und Vertrauen dafür wachsen können, bedarf es Gesprächsmöglichkeiten, um sich gegenseitig wahrzunehmen, zuzuhören, miteinander über die besten Wege zu diskutieren und zu verhandeln. Offene Räume dafür zur Verfügung zu stellen, ist gerade auch in Corona-Zeiten ein Anliegen der Evangelischen Stadtakademie in Darmstadt. Wir hoffen, dass der beginnende Veranstaltungszyklus 2020/2021 mit den unterschiedlichen Veranstaltungsformaten dazu einen Beitrag leistet.
Ihr Franz Grubauer