1990 haben alle OSZE-Staaten die Charta von Paris für ein neues Europa unterschrieben. Damals galt es, ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit zu begründen. Der russische Eroberungskrieg in der Ukraine ist das in die Extreme getriebene Gegenteil. Das Wort der Zeitenwende ist groß, aber es hat sein Recht gegenüber der Ungeheuerlichkeit der Zerstörung und dem tödlichen Grauen, das gerade vor unseren Augen mitten in Europa geschieht, und dem Bruch des Völkerrechts. Aber umso mehr ist es dringend erforderlich, sich zu verständigen, wie diese Zeitenwende zu begreifen ist. Sind die Vorboten dazu nicht bereits in einem unversöhnten zwanzigsten Jahrhundert zu suchen, dessen Verletzungen nie geheilt wurden? Insbesondere Deutschland und Russland blicken auf eine wechselvolle, hoch ambivalente Geschichte zurück, geprägt von engsten Verbindungen, Bewunderung und Verachtung, Vernichtung und mythisch überhöhtem Größenwahn. In Darmstadt wird ein Teil der Geschichte beeindrucken anschaulich durch die historische Verbindung des Großherzogtums Hessen-Darmstadt zu Russland.
Vor diesem geschichtlichen Hintergrund und in Folge der sich immer mehr verschlechternden Beziehungen zu Russland nach der Annexion der Krim wurde 2017 der Darmstädter Dialog: Deutschland-Russland ins Leben gerufen. Die zivilgesellschaftliche Initiative wurde von wissenschaftlichen und kulturellen Institutionen und Einrichtungen in und um Darmstadt gegründet, um trotz einseitiger Propaganda und politischer Spannungen einer Verfeindung zwischen Menschen in Deutschland und Russland entgegenzuwirken.
Das programmatische Prinzip lautete: „Die Anerkennung des Anderen: Voraussetzungen, um Frieden zu bewahren“. Dieses auf gegenseitige Anerkennung beruhende Prinzip, das human, ethisch und rechtlich gemeint war, ist jetzt schwer beschädigt. Es darf aber keinesfalls als Teil Europäischer Identität aufgegeben werden. In aller Schärfe fragt es uns aber selbstbezüglich in diesem historischen Moment in Ermangelung einer Dialogmöglichkeit: Haben wir Russland als den Anderen richtig wahrgenommen und in der ganzen Tiefe der Ambivalenzen richtig begriffen? Und bedeutet Anerkennung des Anderen auch die negativen Seiten der Macht und Gewalt als Triebkräfte wahrzunehmen, die es um der gegenseitigen Existenz willen zu begrenzen gilt? Oder haben wir uns mit einer „Anerkennung light“ begnügt, wo man nicht so genau hinschauen wollte auf die fortgesetzten russischen Kriegshandlungen gegenüber seinen Nachbarn bis zur totalen Zerstörung der syrischen Stadt Aleppo? Wer Anerkennung auf Augenhöhe vom Westen zu Recht fordert, muss es auch gelten lassen im Umgang mit seinen Nachbarn und mit der Ukraine.
Gerade weil es um Europa mit seinen vielfältigen Kulturen und unterschiedlichen Interessen geht, ist und bleibt auch in Zukunft das Prinzip der Anerkennung im umfänglichen Sinne eines gemeinsamen Guts, vor allem aber des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit. Das sind die Garantien für Freiheit und Entwicklung. Garantien, die für die großen gemeinsamen Zukunftsaufgaben wie des Klimawandels dringend gebraucht werden. Aber ohne ein wirkliches Verstehen der unterschiedlichen Kulturen in ihrer Verschiedenheit ist der Rechtsfrieden durch den Missbrauch kultureller Identität hochgradig gefährdet.
Der Eroberungskrieg in der Ukraine setzt auch die über Jahre gewachsenen Partnerschaften und persönlichen Beziehungen in Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft mit Russland gerade auch in Darmstadt aufs Spiel. Wertvolle Erfahrungen, wie man Brücken trotz kaltem Krieg und der Spannungen in der großen Politik auf gegenseitiger Anerkennung zwischen Institutionen und Menschen bauen kann, werden auch künftig notwendig sein. Vor dem menschlichen Leid, der Zerstörung und dem gebrochenen Vertrauen fällt es nicht leicht, die Folgen und Herausforderungen für den Kontinent weiterzudenken. Aber ohne eine Verständigung über die aufgeworfenen Fragen lässt sich auch hierzulande nur schwer über ein Europa nach diesem historischen Wendepunkt denken.
Die Veranstaltung am 17.03.2022 um 18:00 Uhr will dazu mit zwei Gesprächsrunden und kurzen Inputs einen Versuch machen, aber auch über die unmittelbare Hilfe der beteiligten Unternehmen und Institutionen für die Ukraine informieren.
Für die Diskussion zwischen Beteiligten aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Religion und Zivilgesellschaft wie auch für das Publikum wären folgende Fragen zu überlegen:
- Warum gewinnen gefährliche Historisierungen und entsprechende Erzählungen mit Bezug auf Ethnie, Volk, Land oder Religion immer wieder neue identitätsstiftende Energien gegenüber friedenstiftenden, rechtlichen und völkerrechtlichen Vereinbarungen?
- Wurde die Frage der unterschiedlichen Kulturen in Europa und ihre Identität stiftende Kraft für die Gesellschaft und für Loyalitäten in den unterschiedlichen politischen Systemen bisher unterschätzt?
- Welche Rolle spielen die unterschiedlichen Religionen und Religionsgemeinschaften für den Missbrauch von gefährlichen Ideologien und Narrativen?
- Müssen wir uns als Deutsche vor dem Hintergrund unserer Geschichte die Zusammenhänge von Schuld, Verantwortung und Freiheit im Verhältnis zu Russland gerade durch den Krieg in der Ukraine neu bearbeiten?
- Ist die alte These: “Wandel durch Handel“ oder Wandel durch wissenschaftliche Kooperation obsolet?
- Wie können und müssen sich Demokratien und Wertegemeinschaften verteidigen gegenüber autoritären und aggressiven politischen Systemen?
- Unter welchen Bedingungen – nicht zuletzt der weltweiten ökologischen und pandemischen Krisen – ist eine Charta von Paris neu zu denken nach dem Bruch aller rechtlichen Vereinbarungen durch die russische Führung?