Wir lieben die Natur, wir hassen sie. Sie ist seit Menschengedenken unsere Feindin. Und wir verehren sie als Wesen, zum Göttlichen und zu Göttern verklärt, um sie uns mit Mitteln der Kultur und der Religion wieder gewogen zu machen. Eine alte Menschheitsgeschichte, in Mythen und Epen erzählt bis in unsere Tage in der Aktualität des Gaia-Mythos. Wir nehmen sie wahr als übermächtig, um im nächsten Moment über sie zu triumphieren, sie zu bezwingen mit Technik und Wissenschaft. Wir glauben, die Naturkräfte gezähmt zu haben, und zunehmend zu wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält, ja den Kosmos mit unserem wissenschaftlichen Verständnis von Energie und Materie begreifen zu können. Wir singen sehnsuchtsvolle Lieder über die Harmonie mit der Natur, ergehen uns in romantischen Stimmungen, immerhin noch ausreichend, um in unseren Tagen die Eröffnung eines Romantik-Museums zu feiern. Doch beim nächsten Erdbeben oder einer Sturzflut, die der Naturromantik in einem reichlich kultivierten Tal ein schreckliches Ende setzt, packt uns wieder das Grauen vor den rohen Naturgewalten. Wir fragen uns: Was ist das für eine gestörte Beziehung? Was macht diese Zerrissenheit aus? Wohin entwickelt sich die im Zeitalter des Anthropozän gewachsene Co-Abhängigkeit voneinander, wo beide den Stoff des Anderen in sich tragen und sich die eine Partei doch so entschieden abgrenzen will? Mittlerweile hat der eine Teil den anderen so zugerichtet und drangsaliert, dass eine Trennung ratsam wäre, die doch undenkbar ist. Es ist wie ein therapeutischer Beziehungsklassiker: In dieser Hass-Liebe entsteht Wut, Ohnmacht und Verzweiflung, entstehen Apathie oder noch mehr Beherrschungssucht. Gibt es einen Wendepunkt? Ein sehr kleiner unsichtbarer Virus, geschaffen aus Material, das eben auch Teil unseres genetischen Bauplans ist, treibt es jedenfalls für uns in diesen Zeiten auf die Spitze. In seiner weltweiten Präsenz und seiner Unberechenbarkeit führt uns das Erschrecken vor Augen, dass trotz aller erreichten Freiheitsgrade durch Medizin, Technik und Wissenschaft die lebendige Natur zugleich einen derart unvermittelten Zugriff auf den biologischen Körper und empfindenden Leib ausübt. Das Virus gibt Anlass, über die Entgegensetzung von Mensch und Natur neu nachzudenken. Gegenüber der umgebenden Natur scheint unser Körper eine feste Außengrenze und Gestalt zu haben wie andere Körper, Bäume, Steine, Häuser: sichtbar, anfassbar, zählbar, begreifbar. Doch gegenüber einer unsichtbaren subatomaren, molekularen Mikro- und Nanowelt erweist sich unser Selbstbild von Körperlichkeit als unzureichend. Viren und Bakterien jedenfalls wie kosmische und energetische Strahlungen besiedeln und durchdringen unsere Körper mühelos. Könnte ein Bewusstsein dieser Durchlässigkeit von Innen und Außen unserer unauflöslichen Beziehung zur Natur behutsamer und demütiger werden lassen als einen ersten Schritt in der „Paartherapie“? Zumal die Natur, alles was wir denken können, durchdringt und umgibt, und dass sie für unser Denken keinen Anfang und kein Ende hat. Und gehört zum Nachdenken für uns als leibliche Wesen nicht ebenso substantiell das Nachspüren? Im leiblichen Spüren und Befinden wird „die Natur, die wir selbst sind“ am intimsten selbst erlebbar, worauf der Philosoph Gernot Böhme hinweist. Ein Befinden als natürliches Selbstgefühl aller Sinne ist immer schon ein Sich-Empfinden im kulturell umgebenden Raum wie in der Landschaft. Ein sensibilisiertes Wahrnehmen für Wohlbefinden aber auch für Schmerz würde auch zurückwirken auf die Gestaltung des uns umgebenden Kultur- wie Naturraums und damit auf ein anderes Verhältnis zur Natur. Wenn unsere Wirkkräfte als Gesellschaft inzwischen eine Dimension erreichen, dass wir von einem Zeitalter des Anthropozän sprechen, dann liegt umso mehr die Verantwortung als „vorsorgendes Handeln“ für uns als Natur und in der Natur bei uns. Dazu gehört zunächst, dass in dieser Beziehung nicht alles mechanisch auf Knopfdruck oder mit einer Tablette steuerbar ist. Eine kausale Ursache-Wirkung-Beziehung erklärt wenig, wie man auch aus der Paartherapie weiß, um noch einmal an die Metapher anzuknüpfen. Der Abschied von der Machbarkeit weicht einer Erkenntnis einer Komplexität, die nicht-linear verläuft und Wechselwirkungen begreift, die sich ungebremst, dramatisch aufschaukeln können. Der typische Bewegungsverlauf ist der der Welle und Schwingung, nicht der Geraden. Je mehr wir jedoch der Komplexität der Naturverhältnisse wie in der Klimaforschung gewahr werden, desto mehr verstehen wir, was wir noch nicht begreifen. Ein Umgehen mit Komplexität in der Gesellschaft erfordert deshalb Teilhabe der gesellschaftlichen Interessengruppen, weil ökologisches Handeln sozial abgewogen sein muss, auch, weil es risikobehaftet bleibt. Das gesellschaftliche Aushandeln und Abwägen zwischen Handlungsalternativen wäre auch ein Lernprozess für ein neues Denken im Umgang mit Unsicherheit und damit für mehr Resilienz. Vermutlich haben Physikerinnen und Physiker besondere Erfahrungen im Umgang mit Resilienz, von der im Umgang mit Natur zu lernen ist. Die Wissenschaft der Physik ist experimentell bei ihren Modellbildungen den weitesten Weg gegangen, um zu ergründen, wie das, was wir als Naturstoff bezeichnen, mit uns letztlich als lebendigem Wesen zusammenhängt. Bei den theoretischen Modellbildungen sind sie geduldig immer weiter experimentell vorgestoßen bis zu dem Punkt, der als Urknall bezeichnet wird, bei dem sich eine unvorstellbare Menge Energie zu Materie gewandelt hat. Aus einer Vielfalt von Theorien und offenen Experimenten sind weitere Erkenntnissen zu den energetischen Grundbausteinen entstanden, die alle Materie, die sogenannte tote wie die lebendige teilen. Ein solcher für viele noch fremder wie atemberaubender Blick in die Wissenschaft der Physik ist hilfreich, die Beziehung zur Natur facettenreicher zu begreifen. Dass in der krisenhaften Beziehung zur Natur das Verhältnis von Ökonomie und Natur nicht fehlen darf, liegt nahe, wenn wir ökologisch immer mehr die Welt in Kreisläufen und Reproduktionsmustern verstehen, um den Ausstoß von Treibhausgasen und negativen Umwelteffekten in allen Wirtschaftsbereichen zu reduzieren. Eine konsequente Perspektive bietet die Bioökonomie an. Sie orientiert sich am Kohlenstoff-Kreislauf der Natur. Im Primärsektor zielt sie auf eine möglichst emissionsarme Landnutzung und auf die Pflege von Ökosystemen. Dem Schutz und Erhalt der Artenvielfalt wird nicht nur eine existentielle, sondern auch eine übergeordnete ethische Bedeutung beigemessen. Aus dieser Perspektive bekommt der Begriff Lebensmittel eine weiter reichende Bedeutung, über die es sich lohnt, nachzudenken. Die Frage nach unserer Verantwortung im Umgang mit der inneren und äußeren Natur, und damit auch für den Umgang mit den Mitmenschen, stößt auf das Thema Freiheit. Welche Freiheitsgrade ermöglicht uns unsere biologische und sozial-kulturell erworbene Natur? Sind wir so frei, uns von möglichen Grenzen zu befreien, um ein sozial-ökologisches Handeln vorsorgend zu ermöglichen? Alles, was wir heute als krisenhafte Beziehungssituation mit und in der Natur wahrnehmen, hängt nicht nur an materiellen Forderungen z.B. der Einsparung von CO² und einer Kreislaufwirtschaft, sondern auch an uns, in Freiheit uns für dieses andere Verhältnis zur Natur zu entscheiden. Im Protestantismus spielt die kritische Auseinandersetzung über die Freiheit des Menschen eine bedeutende Rolle. In der Würde des Menschen als unhintergehbaren Grund der Freiheit könnte ein Vertrauen und eine Hoffnung liegen, die Welt wie sie ist auch anders zu gestalten, als wie wir sie gerade vorfinden. Können diese fünf Perspektiven unser gestörtes Verhältnis zu uns selbst und zur umgebenden Natur verbessern? Wie auch immer, wir werden um unser selbst Willen therapeutische Schritte gehen werden.
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